Obwohl sich die Basisgruppe St. Gallen im Herbst 2022 aufgelöst hat, soll ihr Zeugnis, wie es während fast 40 Jahren Gültigkeit hatte, an dieser Stelle dokumentiert bleiben.
Jeden zweiten Donnerstag treffen sich im 2. Stock der ökumenischen Haldenkirche oder in einer Wohnung sechs Personen zwischen 51 und 71, davon zwei Paare, um ihren gemeinsamen BG-Abend zu teilen.
Jemand von ihnen hat ein einfaches Abendgebet vorbereitet, Lied, Texte, Gebet, Vater unser und dazwischen viel Stille, angelehnt an die Gebete von Taizé. Das tut gut und entknittert die Seelen nach einer meist randvollen Arbeitswoche. Im zweiten Teil des Abends erhält jede Person viel Raum, um zu erzählen, was sie im Moment im Leben gerade beschäftigt.
Zuhören, sich einbringen, das Eigene in Worte fassen können, Anteil nehmen und Anteil haben lassen: ein eigentlicher Erzählort, wo Platz ist für einen Einblick in den Alltag, die Befindlichkeit, die Lebenserfahrungen. Im dritten Teil taucht dann vielleicht ein aktuelles Thema auf aus der Alltagspolitik, aus den eigenen spirituellen Fragen oder einer Herausforderung der Tage.
Dieser einfache Abend ist der übrig gebliebene, wertvolle Teil einer 30-jährigen, zum Teil gemeinsamen Geschichte, wo man miteinander teilt, am Schicksal wie schwerer Krankheit, an Kündigung, unwürdigen Arbeitsverhältnissen, am Auf und Ab mit den Kindern, am Verlust von Bekannten, Freunden, Verwandten. Wo man das Ohnmachtsgefühl teilt, Grenzen erfährt oder sich gemeinsam engagiert. Eine der grossen Stärken ist unsere grosse gegenseitige Verbindlichkeit, die diesen Weg durch die Jahre möglich machte und Geschwisterlichkeit entstehen liess, auch wenn immer wieder Menschen zu uns kamen und andere uns wieder verliessen.
Weniger gut sind wir darin, einander herauszufordern und uns auf unsere Schatten anzusprechen. Die wenigen heftigen Konflikte im Laufe der Jahrzehnte, die in Trennungen endeten, haben uns konfliktscheuer gemacht. Wir sind offen und freuen uns, wenn jemand bei uns vorbeischaut und sich angesprochen fühlt. Wir freuen uns noch mehr, wenn er oder sie mit uns auf dem Weg bleibt.
Es ist Dienstag, 18.30 Uhr: Eine grosse Gästeschar hat sich an diesem Abend eingefunden. Zusätzliche Stühle müssen aus dem Nebenzimmer geholt werden, damit die zehn anwesenden Personen am Tisch im Wohnzimmer Platz nehmen können. Mit dem Lied «Du bist da, wo Menschen leben» stimmen sich die Anwesenden auf den gemeinsamen Basisgruppen-Abend ein, der wie immer mit einem einfachen Nachtessen beginnt. Ein angeregtes Gespräch entwickelt sich bereits während des Essens. Thomas schwärmt von einer eindrücklichen Ferienwoche mit seiner Familie im Tessin, während Andrea davon erzählt, wie sie sich vor zwei Tagen im Bus über die fremdenfeindlichen Sprüche eines Fahrgastes geärgert habe.
Nach dem gemeinsamen Essen folgt die persönliche Runde, bei der alle Anwesenden von ihren aktuellen Freuden und Sorgen aus dem Alltag ihrer Familie oder am Arbeitsplatz berichten. Schliesslich folgt der thematische Teil des Abends: Mit Hilfe der Lumko-Methode (Sieben-Schritt-Methode aus Südafrika) lesen die Anwesenden an diesem Abend den Bibeltext über den «Rangstreit der Jünger» (Mt 18,1-5) und tauschen in einer Gesprächsrunde darüber aus, welche Bedeutung dieser Text für den eigenen Alltag haben könnte.
Die meisten Mitglieder der Basisgruppe Luzern-Süd (ihre Mitglieder sind in Horw, Kriens und Luzern zu Hause) nehmen bereits seit mehreren Jahren an den regelmässigen Treffen teil, die im Zwei-Wochen-Rhythmus in welchselndem Turnus bei den einzelnen Mitgliedern zu Hause stattfinden. Für die Beteiligten sind diese Basisgruppen-Abende eine willkommene Gelegenheit, um sich «von der biblischen Botschaft bewegen und gemeinsam eine ‚Spiritualität des Alltags‘ lebendig werden zu lassen», wie es im Leitbild der Basisgruppen-Bewegung heisst.
Für viele Frauen und Männer stellt die Basisgruppe eine wichtige Ergänzung zur traditionellen, oft als anonym und unverbindlich erlebten Volkskirche dar. «Die gemeinsamen Feiern in der Basisgruppe berühren mich, weil sie bei meiner Alltagsrealität ansetzen, sinnlich sind und Möglichkeiten zur aktiven Partizipation öffnen – das ist für mich gelebte Kirche», meint Christa, die bereits seit vielen Jahren in einer Basisgruppe eine religiöse Beheimatung findet: «Die ‚Herrlichkeit‘ der Amtskirche ist bei uns kein Thema. Das grosszügige Gottesbild, das auch weibliche Seiten zulässt, spricht mich an.» Und Thomas ergänzt: «Das Zusammentreffen und der Austausch mit Leuten aus verschiedenen Lebensbereichen erweitert meine beschränkte Selbstwahrnehmung, relativiert meine Probleme, Ängste und Sorgen.»
Ähnliche Erfahrungen macht Othmar: «Die Basisgruppe ist für mich der Ort, wo intensive Gespräche über Lebensziele und Werte stattfinden und wo mein Leiden an sozialen Realitäten und meine Hoffnung Raum hat. Hier kann ich regelmässig mit Menschen, denen ich vertraue, den (spirituellen) Boden unter meinen Füssen beackern. Hier geht es um keine glorreichen Theorien, sondern um konkrete kleine Schritte des Alltags, denn Spiritualität ist für mich die reflektierte Dimension des ganz Alltäglichen. Ohne Basisgruppe würde ich nicht alle 14 Tage herausgefordert, über mein Leben und meine Beziehungen nachzudenken.» Dass neben dem persönlichen Austausch auch das gemeinsame Essen und Feiern ein wesentlicher Bestandteil der Basisgruppen-Kultur bildet, machen zwei weitere Stimmen aus der Basisgruppe deutlich: «Auf jeden Fall ist die Basisgruppe für mich ein Ort, wo Kirche gelebt wird. Es ist ein Teilen beim Essen, beim gegenseitigen Erzählen und Anteilnehmen an den Freuden, Sorgen und Nöten der anderen in der Basisgruppe», meint Jürgen. Und Judith betont: «Dass wir Erlebtes auch gemeinsam radikal partnerschaftlich feiern, gibt meinem Leben in verschiedenen Momenten besondere Dichte und stärkt mein Vertrauen in die Verheissungen von Gerechtigkeit und Frieden.»
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Othmar Odermatt, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!